Welche Bedeutung hat das Sachverständigengutachten im familiengerichtlichen Verfahren? Muss das Gericht dem Gutachter folgen? Und was passiert, wenn das Gericht sich in seiner Entscheidung zwei Gutachtern entgegenstellt? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, was das Familiengericht darf, was nicht und wann das Elterngrundrecht verletzt ist, stelle ich hier vor.

 

Der juristische Laie, von Film und Fernsehen bestätigt, sieht es so: Wenn z.B. ein Zeuge den Vortrag einer Partei bestätigt, dann ist er bewiesen. Das stimmt aber nicht!

 

Nicht nur im Familienrecht ist grundsätzlich jeder Beweis zu würdigen. Das Ergebnis der Würdigung kann sein, dass der Vortrag nicht bewiesen ist, z.B. weil der Zeuge unglaubwürdig war oder weil der Sachverständige im Gutachten methodische Fehler gemacht hat.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat sich jetzt dazu geäußert, welche Voraussetzungen diese Beweiswürdigung im Sorgerechtsverfahren erfüllen muss (Beschluss vom 14. April 2021 – 1 BvR 1839/20).

 

Die Eltern stritten jahrelang um das Sorgerecht ihres 2008 geborenen Kindes. 2018 eskalierte ein Streit des Kindes mit seiner Mutter, es wandte sich an das Jugendamt und wurde zu seinem Vater gebracht, wo es fortan wohnte.

 

Im familiengerichtlichen Verfahren waren zwei Sachverständigengutachten erstellt worden. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass es dem Kindeswohl entspräche, wenn das Kind bei der Mutter oder in einer Wohngruppe untergebracht werde. Dem Vater wurde vorgeworfen, er habe das Kind manipuliert und er sei psychisch krank.

 

Das Familiengericht folgte dem und sprach der Mutter das alleinige Sorgerecht zu.

 

In der Beschwerdeinstanz hörte das Oberlandesgericht das Kind an. Die Eskalation und den Wunsch, zum Vater zu ziehen, befand das Gericht für glaubhaft und nicht vom Vater beeinflusst. Die Gutachten seien in Bezug auf die Vorwürfe gegen den Vater lückenhaft bzw. nicht nachvollziehbar. Aus Gründen der Bindung, Kontinuität, Förderkompetenz und wegen des Kindeswillens sprach das OLG dem Kindesvater das alleinige Sorgerecht zu.

 

Die Mutter reichte darauf Verfassungsbeschwerde ein.

 

Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Begründung des OLG nicht genüge. Deshalb verletze die Entscheidung die Mutter in ihrem Eltern-Grundrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.

 

Richtschnur von Sorgeentscheidungen ist einerseits das Elterngrundrecht, andererseits das Kindeswohl (§ 1671 BGB). Die Gerichte dürfen durchaus von den Einschätzungen der Sachverständigen abweichen oder auch ganz auf ein Gutachten verzichten. Diese Abweichung muss aber eingehend begründet werden. Auch darf nicht der Kindeswille einer Entscheidung zugrunde gelegt werden, ohne zu begründen, weshalb dieser dem Kindeswohl dienlich ist.

 

Im vorliegenden Fall hätte das OLG sich eingehender mit den das Kindeswohl betreffenden Feststellungen der Gutachten beschäftigen müssen. Eines der Gutachten hatte sich dediziert mit den Vorfällen am Tag der Eskalation beschäftigt und dargelegt, weshalb diese auf einer Beeinflussung durch den Kindesvaters beruhte. Hiermit hätte das Gericht sich auseinandersetzen müssen. Es durfte sich nicht damit begnügen, dem Kind zu glauben und die Manipulation als „unwahrscheinlich“ abzutun.

 

Das Bundesverfassungsgericht kann keine Entscheidung über das Sorgerecht fällen. Wegen der methodischen Fehler hat es aber die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.