Gegenüber minderjährigen Kindern und solchen unter 21 Jahren, die noch zur Schule gehen, gilt eine gesteigerte Unterhaltspflicht. Das bedeutet nicht nur, dass diese Kinder vor fast allen anderen Unterhaltsberechtigten Vorrang genießen, sondern auch, dass der Unterhaltspflichtige alle zumutbaren Anstrengungen auf sich nehmen muss, um wenigstens den Mindestunterhalt (100 % nach Düsseldorfer Tabelle) zu zahlen.

 

Kommt der Verpflichtete seiner Erwerbsobliegenheit nicht nach und ist deshalb nicht leistungsfähig, kann das Gericht dennoch Kindesunterhalt zusprechen aufgrund sogenannter „fiktiver Einkünfte“. Doch was sind die Voraussetzungen dafür und was geschieht, wenn der Verpflichtete nicht arbeiten kann?

 

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte setzt voraus, dass es an subjektiven Erwerbsbemühungen fehlt, also z.B. an ausreichenden Bewerbungen auf offene Stellen. Außerdem ist erforderlich, dass das fiktive Einkommen objektiv erzielbar ist für eine Person dieser Qualifikation, dieses Alters etc. Ist der Verpflichtete der Ansicht, ausreichende Bemühungen unternommen zu haben oder zur Erzielung eines höheren Einkommens nicht in der Lage zu sein, so muss er hierzu vortragen und dies beweisen.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat am 09. November 2020 einen Fall entschieden, in dem das Oberlandesgericht der unterhaltsverpflichteten Mutter fiktive Einkünfte unterstellt und sie zur Zahlung von Mindestunterhalt verurteilt hatte. Diese Entscheidung griff die Verpflichtete mit der Verfassungsbeschwerde an.

 

Sie hatte dem OLG vorgetragen, dass sie psychisch erkrankt sei und ein Attest ihrer Fachärztin vorgelegt, nach dem sie maximal vier Mal wöchentlich 4 h arbeiten könne. Tatsächlich arbeitete sie 20 h wöchentlich. Das OLG unterstellte aufgrund der tatsächlichen Überschreitung der attestierten Leistungsgrenze von 16 h die Woche, dass die Verpflichtete voll leistungsfähig sei in Höhe von 48 Arbeitsstunden die Woche und verpflichtete sie, Mindestunterhalt zu zahlen.

 

Diese verkürzte Argumentation verstößt nach Urteil des BVerfG gegen das Grundrecht der Mutter auf wirtschaftliche Handlungsfähigkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit schützt vor unverhältnismäßiger wirtschaftlicher Belastung. Auch die gesteigerte Unterhaltspflicht sei nicht grenzenlos, sondern erfordere eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit, an der es hier fehle. Erforderlich sei, dass das OLG seine Entscheidungsgrundlagen darlege, damit sie überprüft werden könnten.

 

Hier fehle es an einer Stellungnahme des Gerichts zu der Frage, weshalb es trotz ärztlicher Stellungnahme die volle Arbeitsfähigkeit unterstelle. Auch habe das Gericht nicht dargelegt, in welcher Höhe in diesem Beruf, bei ihrem Alter und ihrer Erwerbsbiografie ein Einkommen objektiv erzielbar sei. Mangels dieser Feststellung habe es auch nicht überprüft, ob unter Berücksichtigung des Selbstbehalts und eines weiteren unterhaltsberechtigten Kindes der Mindestunterhalt überhaupt leistbar sei – was je nach erlerntem Beruf auch bei vollschichtiger Tätigkeit nicht immer der Fall ist. Lediglich zu den nicht vorhandenen Erwerbsbemühungen hatte das OLG Stellung genommen, was aber für sich nicht ausreicht.

 

Schließlich sei auch der Rückschluss fehlerhaft, wenn die Verpflichtete 20 h arbeite, könne sie auch 48 h arbeiten. Sie hatte dargelegt, dass ihr Krankheitsbild mit Selbstüberschätzung einhergehe und dass bei Überlastung eine Verschlimmerung drohe. Mit diesen Argumenten hatte sich das OLG überhaupt nicht auseinandergesetzt.

 

In diesem Fall führte die Verfassungsbeschwerde zum Erfolg und die Entscheidung des OLG wurde aufgehoben.

 

(BVerfG, Beschluss v. 09.11.2020, 1 BvR 697/20)